Stephen Fry: Mythos, Was uns die Götter heute sagen, Aufbau Verlag, € 16,00
Zügellosigkeit, Lebenslust, Mord und Totschlag, Triumph und Tragödie: Die griechischen Göttersagen sind wilder und wüster als das Leben selbst. Die alten Griechen inspirierten unter anderen Shakespeare, Michelangelo, James Joyce und Walt Disney.
In Stephen Frys brillanter Nacherzählung erwachen sie zu neuem Leben. Wir verlieben uns mit Zeus, sehen die Geburt der Athene und weinen mit König Midas. Meisterhaft und in bester Tradition des britischen Humors zeigt uns Stephen Fry die Bedeutung der griechischen Sagen für die Geburt der Literatur.
Sophy Roberts: Sibiriens vergessene Klaviere
Zolnay Verlag, 2020, € 14
Sophy Roberts musische Spurensuche in die Vergangenheit und Gegenwart Sibiriens ist außergewöhnlich und fesselt von der ersten bis zur letzten Seite! Und das sagen andere:
„Eine außerordentliche Reise durch Musik, Exil und Landschaft“ Edmund de Waal
"Sibiriens vergessene Klaviere ist die wahrscheinlich schönste Sammlung von Überlebensgeschichten des Jahres. ... Und eine Liebeserklärung an eine in Worten eigentlich unfassbare Landschaft ist dieses Buch natürlich auch." Elmar Krekeler, Die Welt
"Eine große Reportage über Sibirien und seine wechselvolle Geschichte, eine Liebeserklärung an die Kraft der Musik und nicht zuletzt eine detektivische Suche nach
alten Klavieren. ... Ein so vielseitiges wie fesselndes Buch, dessen verschlungenen Wegen man nur zu gern folgt." Sebastian Fasthuber, Falter
"Journalismus und Poesie." Peter Pisa, Kurier
"Haut voll in die Tasten" Süddeutsche Zeitung
"Das beste Sachbuch, das ich je gelesen habe. ... Brillant erzählt, in einer Sprache, in der sehr viel Herz ist, Seele; in der Roberts in einer überbereisten Welt einen ganz neuen Sound findet, um
eine solche Reiseerfahrung zu beschreiben." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur
Zeljko, 15jähriger Sohn einer Einwandererfamilie aus Bosnien, verliebt sich in die Frau, bei der seine Mutter putzt, in Martha Gruber, eine mindestens
doppelt so alte Professorin in Heidelberg. Frau Gruber, ihrerseits verheiratet und Mutter einer Tochter, erwidert seine Gefühle. Sie hat alles, was Zeljko sich sehnlichst wünscht, Bücher, Bildung und
Souveränität. Mit ihr besucht er zum ersten Mal ein Theater, sie spricht mit ihm, wie niemand sonst mit ihm spricht. Mit Marthas Liebe wächst Zeljkos Welt. Doch welche Welt ist es, die er da betritt
und wen lässt er dafür zurück? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Begehren und Ausbeutung?
Mit welcher Zartheit hier von der Fragilität und Komplexität einer Beziehung über Alters- und Klassengrenzen hinweg erzählt wird, hat uns schwer beeindruckt. Bereits den ersten Roman des Autors „Wie
ich mir das Glück vorstelle“ haben wir in guter Erinnerung und freuen uns auf weitere Bücher!
Tipp: Jetzt den Martin Kordić lesen und dann das neue Buch von Annie Ernaux, das im Januar erscheinen wird, „Der junge Mann“. Ähnliche Thematik, bei Kordić aus männlicher, bei Ernaux aus weiblicher
Perspektive…. Spannender Vergleich!
Yotham Ottolenghi: Simple. das Kochbuch
Dorling Kindersley, € 28,00
Wer essenspolitisch für die kommenden Tage noch unentschieden ist, der werfe einen Blick in Ottolenghis neues Kochbuch!
Der Name ist Programm, denn die über 100 Rezepte sind erstaunlich einfach zuzubereiten und trotzdem nicht nur für Anfänger interesssant.
Das klare Layout und die schöne Fotografie komplettieren den Genuß.
Guten Appetit!
Ralf Horzon: Das neue Buch
Suhrkamp Verlag, 2020, € 20
Es wurde aber auch Zeit: 10 Jahre nach dem Erstling des Berliner Tausendsassas (Möbelhändler, Apfelkuchenlieferdienst-
organisator, Schriftsteller, Designer)nun der zweite Roman. Um was geht‘s? Um die Schwierigkeiten, ein Buch zu schreiben. Schließlich soll es ja ein nobelpreiswürdiges Buch werden! Neben Einblicken in den Kreativstau eines Autors gewinnen wir auch Einblicke in die Berliner Party- und Fashionszene, die uns brave Münchner*innen vor Neid erblassen lassen. Ein Buch wie eine schillernde Seifenblase. Ein luftiger Hauch von nichts. Aber so kurzweilig und vergnüglich an sämtlichen Problemen der Gegenwart vorbeizuschreiben, das ist auch eine Kunst. Michaela Kube
Daniela Krien
Die Liebe im Ernstfall
Diogenes, € 13,00
Hier nur ein Schauplatz, nämlich Leipzig, aber 5 verschiedene, vielfach ineinander verwobene Frauenschicksale, alles Mittdreißigerinnen, die versuchen, ein Leben zu führen, das dem gesellschaftlichen Idealbild von Familie oder zumindest trauter Zweisamkeit entspricht. Und obwohl sie auf ganz unterschiedliche Weise vom Leben und der Liebe gebeutelt werden, erweisen sie sich alle dann doch als bemerkenswert widerstandsfähig. Ein virtuos komponierter Geschichtenreigen, bei dem der Akzent weniger auf Handlung und Action als auf Sprache, Rhythmus und Form liegt.
William Boyd: Blinde Liebe
Heyne Verlag, 2020, € 10,99
Brodie Moncur hat das absolute Gehör und gilt als Genie unter den Klavierstimmern. Als er in Paris dem grandiosen Pianisten John Kilbarron begegnet, nimmt sein Leben eine dramatische Wendung. Rasch zeigt sich, dass Brodies Künste für Kilbarron unverzichtbar sind. Gemeinsam feiern sie Triumphe in ganz Europa, führen in St. Petersburg ein luxuriöses Leben. Doch all das ist für Brodie unwichtig. Der wahre Grund, weshalb er in die Dienste des genialen, aber unberechenbaren Pianisten eingetreten ist, ist dessen Geliebte, die russische Sopranistin Lika.
Brodie weiß, dass diese Liebe unmöglich ist, und setzt doch alles für sie aufs Spiel - auch sein eigenes Leben.
Ein wunderbar geschriebenes Buch, das einen in die damalige Zeit und die Welt der Musiker eintauchen lässt - und eine schöne Liebesgeschichte. Ameli Bischoff
Karina Urbach: Das Buch Alice
Propyläen Verlag, 2020, € 12,99
Die junge Alice musste in ihrem Leben viele Hürden überwinden: Sie war die Tochter eines wohlhabenden jüdischen Stoffhändlers in Wien. Der nur die seiner Kinder wahrnahm, die intellektuell und schulisch brillierten. Die kleine Alice fing an, sich in der Küche der familieneigenen Köchin umzusehen, versuchte den Vater mit Speisen zu bezirzen. Vergeblich. Sie wurde verheiratet an einen Arzt, ein übler Trinker und Frauenheld. Ihre Mitgift verspielte er. Als er endlich starb, eröffnete Alice, die sich und zwei Söhne durchbringen musste, eine Kochschule. Und wurde eine Wiener Institution, so wunderbar waren ihre Rezepte, so inspirierend ihr Unterricht. Nach der Machtergreifung durch die Nazis musste Alice fliehen, einer ihrer Söhne wurde deportiert… Jahre nach der überlebten Katastrophe entdeckt sie in Amerika das damals von ihr verfasste Kochbuch (ein Bestseller!) – zu ihrem Entsetzen unter falschem Namen. Ihre Enkelin Karina Urbach, eine Historikerin, hat diese bewegende Geschichte nun unter dem Untertitel „Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten“ aufgeschrieben, und das ist ein großes Glück. Ein mitreißendes Buch, das von der Wonne des Kochens, von der Zähigkeit einer Unerschrockenen und vom herzzerreißenden Drama einer Flucht erzählt. Katja Nele Bode
Robert Seethaler: Der letzte Satz
Hanser Verlag, 2020, € 11
Nein, keine Romanbiographie des Komponisten Gustav Mahler von der Wiege bis zur Bahre. Statt dessen ein hinreißendes Portrait des Künstlers als alter Mann: Mahler auf seiner letzten Atlantiküberquerung, vom quirligen New York zurück nach Wien. Rückschau und Reflexion. Höhe- und Tiefpunkte eines bewegten Künstlerlebens. Kein Wort zuviel. Verdichtung durch Reduktion. Ein echter Seethaler. Michaela Kube
David Schalko: Bad Regina
Kiepenheuer & Witsch, 2021, € 24
Vorlage für Schalkos Roman über einen einst mondänen, nun aber abgehalfterten Kurort in den österreichischen Alpen ist Bad Gastein. Verblichene Grandezza, ein zwielichtiger chinesisch stämmiger Immobilienunternehmer, der ein heruntergekommenes Haus nach dem anderen kauft, und Othmar, ein einstiger Stern am Clubbetreiber-Himmel, der den Ausverkauf seiner Heimat nicht hinnehmen und hinter die Motive des Chinesen kommen will: Voilà das Setting für eine hinreißende Satire, deren dia-logischer Witz nicht von ungefähr kommt – Schalko ist auch Drehbuchautor, die Austrophilen unter Ihnen werden sich an die Serie „ Braunschlag“ erinnern. Wer für ein paar vergnügliche Lesestunden in einem klassisch österreichischen Morbiditätskosmos mit schwarzem Humor versinken will: Sofort zugreifen! Michaela Kube
Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
Hanser Berlin, 2021, € 20
Der Ich-Erzähler dieses schmalen Bändchens ist in den frühen 90er Jahren mit seinen Eltern als Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, wo er sich nach 25 Jahren alles in allem doch mehr oder weniger zu Hause fühlt und sich nun einbürgern lassen möchte. Der bürokratische Prozeß, der damit in Gang gesetzt wird, führt ihn in seine Geburtsstadt Kiew, wo er sich, zwecks Beschaffung der erforderlichen Dokumente, erst einmal in die Feinheiten der allgegenwärtigen Korruption einarbeiten muss, und wo ihm vieles vertraut und fremd zugleich scheint.
Mit viel Wärme und melancholischem Humor beschreibt Kapitelman das Lebensgefühl von erwachsenen Migrantenkindern, die immer irgendwo dazwischen sind, gefangen zwischen der Loyalität zu den Eltern
und ihren Wurzeln und dem Wunsch, zur deutschen Mehrheitsgesellschaft dazuzugehören. Für die Deutschen ist der Ich-Erzähler kein Deutscher, für die Ukrainer kein Ukrainer….
Dennoch ist dieser autobiografische Text ohne jede Spur von Larmoyanz, und ganz nebenbei präsentiert uns Kapitelman, was aus diesem Dazwischen in sprachlicher Hinsicht Erfrischendes entstehen kann.
Lassen Sie sich von klugen Neologismen überraschen und begleiten Sie den Autor auf seinem absurd-komischen Weg durch die Mühlen der deutschen und ukraininischen Bürokratie. Michaela Kube
Eva Munz: Oder sind es Sterne
Kunstmann Verlag, 2021, € 24
Das Cover macht schon klar: Nein, es sind keine Sterne, es sind Bomben.
Wir befinden uns im Jahr 2001, und in ihrem Romandebüt verknüpft Eva Munz auf äußerst geschickte Weise das Schicksal von drei Personen: Von Sameer, einem frommen Teenager, der in einem Kabuler
Waisenhaus in dem Glauben heranwächst, seine Mutter seit tot, von Hasir, Sameers Onkel, der als vermögender Exil-Afghane in Paris lebt und das, was mit seiner Schwester bzw. Sameers Mutter passiert
ist, geheim hält, und von Leutnant Ryder, einem US-Marine, der in einem geheimen Trainingslager für einen internationalen Spezialeinsatz ausgebildet wird.
Eva Munz schreibt unglaublich spannend und bietet eine ganz neue Perspektive auf die Zeit rund um das Jahr 2001, auf den Kriegsbeginn in Afghanistan und die Verwirrung nach den Anschlägen vom 11. September. Dabei spielt sie mit Klischees und bricht mit Erwartungshaltungen, wenn beispielsweise der Leiter des Trainingslagers von Achtsamkeit spricht und seinen Soldaten Meditation verordnet…
Eine Art Polit-Thriller, der uns im Nu dazu gebracht hat, parallel zur Lektüre noch einmal auf Wikipedia nachzusehen, wie das eigentlich war damals, als die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten im
Dezember 2001 Tora Bora bombardierten, wo sie Osama bin Laden vermuteten, wer zur Nordallianz gehörte, von wann bis wann nochmal Afghanistan von den Sowjets besetzt war…
Für alle historisch und politisch interessierten Leserinnen und Leser: Lesen! Michaela Kube
Damon Galgut: Das Versprechen
Luchterhand Verlag, 2021, 24€
In diesem mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman erzählt Galgut anhand einer einzigen Familiengeschichte die Entwicklung Südafrikas vom Apartheid-Regime bis heute.
Die Swarts sind eine weiße Farmer-Familie. Vor ihrem frühen Tod verspricht Mutter Rachel dem langjährigen schwarzen Hausmädchen Salome ein eigenes Haus auf eigenem Grund. Doch die Jahre ziehen ins Land, und weder Rachels Mann noch Rachels Kinder sehen sich in der Pflicht, dieses Versprechen einzulösen.
Mit Ende der Apartheit rutschen sie ab in Sinnkrisen, Suff und Selbsthass. Nur Amor, die jüngste Tochter, bringt das Versprechen immer wieder zur Sprache. Und sie ist es, als letzte lebende Swart, die noch einmal auf Salome zugeht - über 30 Jahre, nachdem das Versprechen abgegeben wurde.…
Große Weltgeschichte gespiegelt in kleinen Einzelschicksalen und umgekehrt - Galgut ist es hervorragend gelungen. Gratulation zum Booker Prize! Michaela Kube
Judith W. Taschler, Über Carl reden wir morgen
Zolnay Verlag, 2022, € 24
In diesem großartigen historischen Roman wird die Geschichte des österreichischen Waldviertels, sowie ganz Europas erzählt.
Über drei Generationen versucht die arme Familie Brugger den Aufstieg, sie wagen viel, bauen die Hofmühle auf und um, suchen ihr Glück in der Fremde, ziehen in den Krieg und kehren heim, gewinnen und verlieren. Das Ganze ergibt ein wunderbares Zeitgemälde, fesselnd und packend, großes Kino. Ameli Bischoff
Denise Mina, Klare Sache
Ariadne, 21 Euro
Was für eine geniale Krimi-Autorin, die es unbedingt noch zu entdecken gilt. Die Schottin aus Glasgow arbeitete erst in einer Fleischfabrik, in Bars, als Köchin und als Krankenpflegerin, bis sie
schließlich ihr Jurastudium an einer Abendschule abschloss. Sie wurde dann nicht wie geplant Kriminologin - sondern wollte lieber über Missstände und Ungerechtigkeit schreiben. Das macht sie so
rasant, unkonventionell und scharfsinnig, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Ihr unglaublich spannender Roman "Klare Sache" erzählt die Geschichte einer Frau auf der Flucht. Weil ihr etwas
passiert ist, was keiner wissen darf. Denn wenn die Wahrheit ans Licht käme, würde das Imperium einer sehr reichen und skrupellosen Person ins Wanken geraten. Wie eine einzige Person einem System von
Macht, Korruption und Gier die Stirn bietet, liest sich klug, zutiefst menschlich und wahnsinnig spannend. Ein Krimi Noir mit einem guten Schuss Feminismus um eine herrliche Femme normale.
Judith Burger: Gertrude Grenzenlos
Gerstenberg Verlag, € 12,95
Gertrud eist neu in Inas Klasse und ist anders als alle Mädchen, die Ina kennt. Sie trägt Westklamotten, ihr Vater ist Schriftsteller und die Familie hat einen Ausreisantrag gestellt. Zum ersten Mal hat Ina eine beste Freundin und merkt nun, dass diese Freundschaft nicht erwünscht ist. Das will sie sich nicht gefallen lassen..
Ein sehr gelungener Einblick für 10-12-jährige LeserInnen in die Zeit der DDR. Und eine wunderbare Freundschaftsgeschichte zweier Mädchen, die füreinander einstehen. Und wer Gertrude Stein noch nicht kennt, lernt auch diese kennen!
Michael Frank: Schmalensee
Picus Verlag, 2020, € 22
Eine Siedlung zwischen Klais und Mittenwald, bewohnt von Flüchtlingen und Aussiedlern in der Nachkriegszeit ist eine Welt für sich und das Zuhause von Michael Frank. Seine Kindheitserinnerungen an die harten Wege zur Schule in sibirischer Kälte, an den grimmigen Vater, geliebt und gefürchtet, an die fromme, aber wissenshungrige Mutter, geben uns einfühlsame und auch lustige Einblicke. Die Kinder bauen sich darin ihre eigene Welt, zwischen Rechtgläubigkeit und ideologischem Aufruhr, unter dem Einfluss von Kirche, Schule und "Besatzern" und den Einbrüchen der Moderne. Ein wunderbar authentischer Roman, nicht nur, aber vor allem für Hiesige. Ameli Bischoff
Sofie Oksanen: Hundepark
Kiepenheuer&Witsch, 2022, 23€
Nach einer gescheiterten Model-Karriere im Ausland kehrt Olenka mittellos in die Tristesse ihrer ukrainischen Heimat zurück. Eine Anzeige, in der attraktive und gesunde Mädchen angeworben werden, scheint der einzige Ausweg - worum es dabei genau gehen soll, bleibt unklar, explizit erwähnt dagegen wird, worum es nicht geht: Nicht um Prostitution, nicht um Ehevermittlung.
Als Olenka in der Agentur vorstellig wird, rechnet sie mit dem Schlimmsten, und so willigt sie sofort ein, als sich herausstellt, dass man von ihr nicht eine Niere will, sondern "nur" ein paar Eizellen. Dank ihrer Auslandserfahrung wechselt Olenka jedoch bald die Seiten und wird von der Eizellenspenderin zur Eizellenspenderin-Vermittlerin. Sie steigt groß ein ins Leihmutter- und Fruchtbarkeits-Business, das vermögenden Paaren aus dem Westen zur Erfüllung ihres Kinderwunsches verhilft . Für viele junge ukrainische Frauen ist dieser boomende Wirtschafts-zweig die einzige Möglichkeit, zu Geld zu kommen.
Doch was tun, wenn nicht alles glattläuft, wenn die Spenderin die Hormonbehandlung nicht verträgt, wenn bei der Entnahme Komplikationen auftreten, wenn die Leihmutter während der Schwangerschaft eine so starke Bindung zu dem Kind entwickelt, dass sie es nach der Geburt nicht mehr hergeben will? Dann wird man den Boden der Legalität (und Eizellenspende und Leihmutterschaft sind in der Ukraine legal) verlassen müssen....
Jahre später wird Olenka, die inzwischen ein unauffälliges Dasein als Putzfrau in Oslo fristet, von ihrer einstigen Tätigkeit in der Kinderwunsch-Industrie eingeholt..
Ein unglaublich guter, vielschichtiger, informativer Thriller über die Ausbeutung und Kommerzialisierung des weiblichen Körpers.
Michaela Kube
Anna Hope: Was wir sind
Hanser Verlag, 2020, € 22
3 Frauen, 3 Wege. Hannah und Cate kennen sich seit ihrer gemeinsamen Schulzeit , Lissa und Hannah haben während des Studiums Freundschaft geschlossen. Alle drei leben als End-Zwanzigerinnen in
einer fröhlichen, unbeschwerten WG in London Fields.
Doch es kommt der Zeitpunkt, an dem es gilt, die Weichen für das eigene Leben zu stellen.
Hannah entscheidet sich für verantwortungsvollen Job, Mann, Heirat und Kind – aber das Kind will nicht kommen, und ihre Ehe mit Nathan wird durch den unerfüllten Kinderwunsch auf eine harte Probe
gestellt. Cate wiederum bekommt mit einem Mann, mit dem sie zunächst eher aus Pragmatismus denn aus Liebe zusammen ist, ein Kind, und ist als junge Mutter heillos überfordert. Lissa schließlich führt
ein wildes Leben als Schauspielerin, mit wechselnden Liebhabern und spärlich gesäten Engagements.
Wie entwickeln sich Frauenfreundschaften, wenn jede für sich die grundlegenden Entscheidungen für ihr Leben trifft? Was trennt, was hält zusammen?
Ein eher leiser Roman, der mit einem untrüglichen Gespür für die kleinsten zwischenmenschlichen Nuancen von verschiedenen Lebensentwürfen erzählt, zwischen denen sich zu entscheiden nicht immer leicht ist… Michaela Kube
Anita Brookner: Ein Start ins Leben
Eisele Verlag, € 20,00
„Im Alter von vierzig Jahren wurde Dr. Weiss klar, dass die Literatur ihr Leben ruiniert hatte“. Einen Roman, der so anfängt, will man weiterlesen, vor allem als Buchhändlerin…
Wir hoffen, dass die Geschichte von Ruth Weiss Sie ebenso berühren wird wie uns. Ruths einzige Zuflucht in ihrem wenig liebevollen Elternhaus (Mutter Helen, einst gefeierte Schauspielerin, verbringt ihre Tage mit einem Drink in der Hand im Bett, Vater George sehnt sich nach einer Frau, die in der Lage ist, sich um sich selbst und ihr Zuhause zu kümmern) sind Bücher. Ein Studienjahr in Paris soll die große Wendung in Ruths Leben bringen. Dort erfährt sie zum ersten Mal, was Freiheit bedeutet. Wird sie hier endlich ihrer Einsamkeit entkommen?
Mit ihrem Roman „Ein Start ins Leben“ ist Anita Brookner eine außerordentlich kluge, einfühlsame und stellenweise sehr witzige Tragikomödie gelungen.
Lida Winiewicz, Späte Gegend
Braumüller, 2020, Euro 20
Die Autorin, Jahrgang 1928, hat mit diesem Büchlein dem Leben einer armen Bäuerin im Mühlviertel/Österreich ein literarisches Denkmal gesetzt. Ohne zu beschönigen, aber auch ohne zu verurteilen erzählt die spätere Bäuerin von unendlich harter Arbeit von Kindesbeinen an, der Hunger ist ständiger Begleiter. Es ist so lange nicht her, ein Menschenleben, und doch durchleben wir als Lesende einen Alltag wie aus der Welt gefallen. Wir können Not und Armut nur erahnen und viele Szenen berühren zutiefst: das nicht erhörte Beten und Hoffen des Mädchens, der gerade aus dem Krieg heimgekehrte Vater möge Bratkartoffel und Zwiebeln nicht ganz aufessen, damit ihr hungriger Bauch ein wenig gefüllt würde. Aber auch die Freude, die sie als Fünfjährige über eine Hirschseifschachtel empfand - und ihr ganzes Leben lang nichts dieser Freude gleichkam. Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, sehr bewegend. Dorothee Luther
Hans Pleschinski: Am Götterbaum
C.H.Beck Verlag, 2021, € 23
Eines abends machen sich eine Stadtbaurätin zusammen mit einer Bibliothekarin, einer Schriftstellerin und einem Spezialisten, nebst Ehemann, auf den Weg vom Rathaus zur Villa des Paul Heyse in der Louisenstraße - die Mission: daraus eine literarische Begenungsstätte zu machen, die dem ersten deutschsprachigen Literaurnobelpreisträgers würdig ist! Was, der Mann ist nicht nur eine häßliche Unterführung? Bald wird offensichtlich, dass alle doch sehr unterschiedliche Meinungen haben bzw. Pläne mit der Villa verfolgen.
Im Laufe des Fußmarsches entfaltet sich eine wunderbares Bild eines - zu Recht oder zu Unrecht - vergessenen Schriftstellers, eines Literatenfürsten, Größe seiner Zeit und gesellschaftlicher Mittelpunkt Münchens. Ganz en passant wird das heutige München portraitiert, sowie mit einer Vielzahl von Anekdoten seine Geschichte erzählt. Ein Schmaus für alle die München kennen und lieben. Ameli Bischoff
Audre Lorde: Sister Outsider
Hanser Verlag, 2021, € 20
Audre Lordes Sister Outsider, 1984 erstmals erschienen, jetzt bei Hanser neu aufgelegt, versammelt Essays,Interviews und Reden der gefeierten afroamerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin, so vielschichtig wie ihr Leben und die vielen Facetten ihrer Identität.Ihr Denken, Dichten und Schreiben umkreist die großen Themen Rassismus, Feminismus, Patriachat und Klasse. Lorde spricht in einer Verschränkung von kollektiven und individuellen Blickwinkeln als Frau, die auch ihren Körper, Erotik, ihre Gefühle und ihr Eingebundensein in einer Reihe afroamerikanischer Ahninnen als Quelle ihrer Macht begreift. Viele ihrer Texte blenden zurück in die großen politischen Befreungsbewegungen der 70er und 80er Jahre.
Lordes hellsichtige, scharfe, auch wütende und unnachgiebige Analyse der universellen Mechnanismen von Unterdrückung und Ausgrenzung sind allerdings zeitlos und hochaktuell: Emanzipation, gar Befreiung zu erlangen, ist komplex und bedarf beständigen Aushandelns und Reflektierens. Als visionärer Beitrag zu den aktuellen Debatten um Identitäten, strukturellen Rassismus, um sexualisierte Gewalt und den Preis eines einseitig profitorientierten Wirtschaftens sind Lordes Essays ein einzigartiges Statement. Sich selbst und andere zu ermächtigen, zur Sprache und ins Handlen zu kommen, ist Leitmotiv ihres gleichermaßen poetischen und leidenschaftlichen, wie analytischen Schreibens. Im Kern: wie man Differenz anerkennt, verhandelt und schöpferisch in Aktion bringt: "Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen." Dominika Hirschler
Thomas Hettche: Herzfaden
Kiepenheuer & Witch, 2020, € 24
ACHTUNG: Kein Kinderbuch, auch wenn der Untertitel „Roman der Augsburger Puppenkiste“ lautet und wir all den Figuren begegnen, die wir aus der Kindheit kennen, dem Kater Mikesch, der Prinzessin Li Si und Lukas, dem Lokomotivführer. Vielmehr verknüpft Hettche geschickt die magische Ebene der Puppen mit der realhistorischen Ebene der Personen, die diese Puppen erschaffen haben: mit der Geschichte Walter Oehmichens und seiner Tochter Hannelore. Ein Stück gut recherchierte Nachkriegsgeschichte, spannend und dynamisch erzählt. Ein großer Roman über ein kleines Theater! Michaela Kube
Fulvio Tomizza "Die Flöhe in der Oper", illustriert von Axel Scheffler, Jacoby &Stuart 2018
Familie Hupf ist eine kunstsinnige Flohfamilie- man begeistert sich für Oper und schmuggelt sich in den Kleidern des Publikums in die Vorstellung. Wie die wachsende Neugier und Bühnenleidenschaft eines vorwitzigen Flohmädchens eines Abends zu einem handfesten Theaterskandal führt, davon erzählt Saltellina, die nach der Vertreibung ihrer Verwandschaft aus dem Opernhaus kurzerhand selbst zur Darstellerin wird..Im Anhang wird anhand von Skizzen und einem ausführlichen Glossar alles zum Thema Oper erklärt- Axel Scheffler hat die hintergründige kleine Geschichte kongenial, liebevoll und mit einem Augenzwinkern illustriert. Nicht nur für Kinder!
Dominika Hirschler
Unerhörte Dichte,schiere Schönheit der Sprache,Poesie und Präzision, meisterliche Erzählung und faktengesättigte Reportage,im Stil an Tolstois soziologische Tiefenschärfe und Cechovs zärtlichen Fatalismus gemahnend- Marie Luise Scherers "Akkordeonspieler" vereint all dies in sich. 2004 bereits in Enzensbergers "Die Andere Bibliothek" erschienen, wurde dieses Kleinod von Matthes&Seitz in 2017 einem kleinen Bändchen wieder aufgelegt.In der zentralen Figur des Akkordeonspielers Wladimir Alexandrowitsch Kolenko laufen alle Fäden zusammen und sie verbinden Welten: das heutige Berlin und seine Armutsmigranten, die sich in den U-Bahn-Höfen mit Musikdarbietungen über Wasser halten- die neureichen Russen im Westen - das untergegangene Sowjetreich mit seinen vielen Völkern, die sich stellvertretend in den Reisenden des Berlin-Moskau-Jessentuki-Expresses wiederfinden, in einem "immerwährenden Picknick" auf den Bänken der Schlafwagen versammelt. Die Autorin durchmißt einen gewaltigen Raum, inhaltlich, sprachlich wie geographisch und das auf gerade mal 142 Seiten.
Dominika Hirschler
B wie Backlist: Verzeichnis aller lieferbaren Titel eines Verlages. Im Branchenjargon sind das alle Titel, die nicht zu den Neuerscheinungen zählen. Für uns: Bücher die wir lieben, gerne weiterempfehlen und denen wir auch langfristig einen Platz in unserem Regal einräumen.Neuerscheinungen werden überall besprochen, unsere Backlist entdecken Sie nur hier.
Ein auf den ersten Blick konventionell gestrickter Episodenroman mit großstädtischem Personal, überwiegend in kreativen, freien Berufen tätig, man spielt "Bäumlein-wechsle-Dich".
Nüchtern und scheinbar unbeteiligt beobachtet Jackie Thomae ihre Figuren beim Verlassen und Verlassen werden, bei "einer Art Leiden ohne Klassifikation: urbanes Unwohlsein". In lakonischen Sätzen erschafft sie Klischees, die so real sind, daß im Leser die unangenehme Ahnung dräut: wenn diese Leute Klischees sind, dann muss ich selbst eins sein. Transzendental obdachlose Zeitgenossen jagen rastlos dem Glück, der Erfüllung, der Lust, dem Erfolg und dem Genuß hinterher und hinterlassen dabei bestenfalls Leere, eine Schneise von Schmerz, gar Verwüstung.
Ein seltsam schwebender Sound schleust in lose zusammengehaltenen Episoden durch die Innen- und Außenwelten der allesamt zu wenig Tiefe begabten, paarungshungrigen und vom Beziehungsalltag desillusionierten Großstädter. Wo sich einer von einer Wahrheit treffen lässt, leuchten Momente der Klarheit auf: immer unberechenbar, oft ungewollt, manchmal unerträglich. Nach kurzem Innehalten dreht es sich weiter, das Karussell der Wahrheiten, Klarheiten, Eitelkeiten, Lebenslügen und der ganze unerklärliche Rest, einfach immer weiter.
Unprätentiös, klug, leise und sehr genau erfasst Jackie Thomae diesen Reigen und das macht den Reiz ihres Buches aus. Am Ende bleibt der Leser verstört und getröstet zurück: nichts ist von Dauer- nicht einmal der Trennungsschmerz.
Dominika Hirschler
"Schrecklich schön und weit und wild" von Matthias Politycki, Hoffmann und Campe 2017, 22,- Euro
Warum wir reisen und was wir dabei denken- ich habe geschmunzelt, gestaunt und mich mit Vergnügen auf Herrn Polityckis wilde weite und schreckliche schöne Reisen mitnehmen lassen. Kein Reiseführer, ein Metatext über die Paradoxien und Fallstricke der eigenen Wahrnehmung beim Aufbruch in die Fremde. Der Grundton ist melancholisch, die Bilanz pessimistisch, der Reisetrieb des Autors trotzallem notorisch. Ein Buch, das mir Lust gemacht hat, dennoch loszuziehen - auch wenn die Globalisierung, das Internet und der moderne Flugreiseverkehr unsere Welt scheinbar haben schrumpfen lassen: Abenteuer lauern überall.
Dominika Hirschler
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